Kundgebung beim Climate March in Tübingen am 21.10.2017 (Eingangsrede Heiner Lempp von attac Tübingen)

Gut, dass Ihr da seid – gut dass WIR jetzt wieder Themen setzen
Zum Glück ist der „Wahlkampf“ vorbei , in dem – so habe ich es im Gemeinschaftskundeunterricht gelernt – die Parteien im Wettstreit um die besten Zukunftsideen die Zustimmung der Bevölkerung suchen sollen.

Habt Ihr davon etwas gemerkt? Habt Ihr beim „Duell Kanzlerin – Kanzlerkandidat“ im Fernsehen auch nur 1 Wort zu den global überlebenswichtigen Fragen gehört. Es ist nicht einmal, nicht einmal das beschönigende Wort „Klimawandel“ für die Erdüberhitzung gefallen, die ja nicht in ferner Zukunft auf uns zukommt, sondern in der wir schon mittendrin stecken – mit hunderttausendfach tödlichen Folgen – wenn auch noch nicht in Berlin und Tübingen, aber weltweit; und fernsehnachrichtentaugliche Ausläufer haben in diesen Wochen nun auch Irland und Portugal erreicht.
Und sollen , wollen wir uns nun die nächsten Wochen von Jamaika-Spielchen unterhalten lassen: ob ein gewisser Herr Lindner oder der „türkische Schwabe“ Cem Özdemir Außenminister wird? Wohin man eine fachpolitische Null wie Herrn Dobrindt abschiebt, der die letzten 4 Jahre Verkehrsminister spielen durfte, oder wie man das Draußenhalten von Kriegs- und Klima-Flüchtenden am geschicktesten verbrämt? NEIN! Die Organisatoren dieser Kundgebung, Ihr und hoffentlich viele und immer mehr müssen die Fragen in die Öffentlichkeit tragen, die im Zusammenhang mit der UN_Weltklima-Konferenz in Bonn im November, 2 Jahre nach dem Pariser Klima-Abkommen hoffentlich lautstark zur Sprache kommen:

Daß nämlich die Bundesrepublik Deutschland absehbar ihr CO2-Reduktionsziel von 40% bis 2020 im Vergleich zu 1990 weit verfehlen wird

Daß AUCH deshalb das errechnete „CO2-Budget“, das für eine Begrenzung des globalen Temperaturanstieges auf 1,5% für die nächsten 10 Jahre der Welt noch „zur Verfügung steht“ schon 2020 verbraucht sein wird – und das heißt der Untergang von Inselstaaten wie Tuvalu und weiten Teilen von Küstenstaaten wie Bangla Desch nicht mehr aufzuhalten sein wird.

Dass der selbsternannte „Vorreiter“ der Energiewende: Deutschland in Wirklichkeit „Spitzenreiter“ in der Förderung und dem Verfeuern von Braunkohle ist, dem schlechtesten der klimaschädlichen fossilen Energieträger – Spitzenreiter noch vor China, das immer gerne als Oberumweltsünder angeprangert wird. Dabei wissen alle, die sich damit beschäftigen, dass 50% der als „Reserven“ bezeichneten bekannten Vorkommen von Erdgas, 2/3 des Erdöls und 80% der Kohle im Boden bleiben müssen, wenn die Klimaziele erreicht werden sollen!
Daß durch die neue Version des EEG durch die sog. Große Koalition der Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland bereits meßbar abgebremst wird und die unbedingt erforderlichen Entscheidungen über die Architektur der Stromverteilungsnetze für die erneuerbaren Energien immer noch nicht gefallen sind, obwohl diese inzwischen 35% des Energiebedarfes abdecken

Daß für den dringend notwendigen Umbau des Güter- und Personenverkehrs von E-Mobilität schwadroniert wird und dabei die Illusion erzeugt, es könnten „einfach“ statt zig Millionen Benzin- und Dieselautos elektrische fahren und ansonsten alles so weiter gehen wie bisher, man stolz E-Prototypen präsentiert, die Dank Riesenbatterien in 4 sec von 0 auf 100 beschleunigen können – als ob der Erhalt solcher „Lebensqualitäten“ das Entscheidende wäre.
Dass die durch fehlgeleitete Subventionen gepamperte industrielle Landwirtschaft nicht nur schlechte Nahrungsmittel-Qualität liefert, sondern auch ihren erheblichen Teil zur Erdüberhitzung beiträgt – (von den katastrophalen Folgen auf die Insekten- und Vogelwelt wird jetzt immerhin gesprochen – jetzt wo ich die Auswirkungen schon in unserem Stadtgarten hier in der Uhlandstraße beobachten kann und in China Obstbäume inzwischen von Menschenhand bestäubt werden müssen!)

All das müssen WIR auf die Tagesordnung setzen, denn „die Politik“, das sollten wir nun in den letzten Jahren und Jahrzehnten wirklich gelernt haben, bewegt sich nur, wenn sie Druck bekommt. Und dass sie von anderer Seite Druck bekommt – das ist ja nun auch unübersehbar, und wir werden weiter unter uns diskutieren müssen, wie und ob überhaupt in dem herrschenden politischen System die notwendigen an die Wurzel gehenden, radikalen Veränderungen möglich sind. Dies zu bezweifeln gibt es gute, also schlechte Gründe:

Vor 10 Jahren, in der sogenannten „Bankenkrise“, als Zocker-Banken auf Kosten der Steuerzahler „gerettet“ wurden, hieß es, das dürfe nicht nochmal vorkommen, das Bankensystem müsse entsprechend umgebaut, Großbanken aufgespalten werden – passiert ist so gut wie nichts! Nicht einmal Herr Schäuble, der durch die Erpressung und Demütigung einer demokratisch gewählten Regierung in Griechenland sein hier in Deutschland hohes Ansehen als „harter Hund“ weiter ausgebaut hat, hat es geschafft eine Steuer auf Finanztransaktionen von ungeheuerlichen 0,1% (!) auch nur in Teilen der EU durchzusetzen. Und noch bis 2012 haben Banken dazu geholfen, dass Ihre reiche Kundschaft mit sog „Cum-Ex“ und „Cum-cum“-Geschäften 2stellige Milliardenbeträge an Steuern hinterziehen konnten. Wer hat hier das sagen?
Nachdem der sog. „Dieselskandal“ nun wirklich unübersehbar gezeigt hat, dass absolut zentrale und systemrelevante „player“ der deutschen Wirtschaft jahrelang auf kriminelle Weise und durch Geheimabsprachen abgestimmt Kunden und Behörden betrogen und die Gesundheit der Bevölkerung geschädigt haben, dürfen die „verantwortlichen“ Personen entweder mit Millionen-Abfindungen sich diskret zurückziehen oder bei Kaffeekränzchen mit der Regierung unverschämte „freiwillige Vereinbarungen“ für Plazebo-Maßnahmen anbieten. Wer hat hier das sagen?

Während ansonsten in Politik und Medien inhaltliche Diskussionen weitgehend von „Meinungsumfragen“ verdrängt sind, deren Sinnhaftigkeit und Relevanz die Fieberkurve der „Beliebtheit von Martin Schulz“ in den zurückliegenden 10 Monaten überdeutlich gezeigt hat, wird EIN Thema von „Meinungsforschungen“ von der Politik großzügig ignoriert: seit langem wird bei allen Umfragen zum Thema Waffenexporte von einer großen Mehrheit der Bevölkerung eine Einschränkung , besser ein Verbot der Exporte von Kriegswaffen und auch sog. „Kleinwaffen“ befürwortet. Völlig unbeeindruckt davon steigen die Exportgenehmigungen der Bundesregierung immer weiter an, ist Deutschland in Europa führend und weltweit auf dem „ehrenwerten“ 3. Platz der Waffenexportnationen – weshalb ja auch Griechenland in der Finanzkrise alles mögliche verboten wurde aber nicht der Kauf von Waffen, gerade aus Deutschland! Wer hat hier das sagen?
Machen wir uns also nichts vor: Ein Wirtschaftssystem, das in sich den unausweichlichen Zwang trägt (und dies liegt nicht an der persönlichen Gier, einem Charakterdefekt eines Herrn Winterkorn), immer weiter zu wachsen, wird dafür alle erreichbaren Ressourcen an Materie, physikalischer und biologischer Energie, und auch Arbeitskraft und psychischen Energien der Menschen ausnutzen. Eine unbepreiste Größe wie der Energie- oder CO2-Gehalt der Atmosphäre oder die Diversität der Tier- und Pflanzenwelt spielt dann eben keine Rolle. Und gelegentliche Versuche, den „volkswirtschaftlichen Wert“ z.B. eines Erholungsgebietes (durch die Reduktion von Arbeitsunfähigkeitstagen) oder eines fütternden Meisenpärchens (durch die Verminderung der Zahl von Insekten) in € und Cent auszudrücken und damit für das System wahrnehmbar zu machen, sind ja nur absurd, indem sie dem herrschenden System auf den Leim gehen, in dem Werte nur solche sind, die in Geld gemessen werden können, das alles zur Ware macht.

NEIN wir werden grundsätzlich andere Fragen stellen und Antworten suchen müssen, wenn wir die Erde „enkeltauglich“ erhalten wollen (was für einen Graurücken wie mich die Motivation ist). Viel Zeit haben wir nicht mehr und der Weg ist steil und holperig; Stolpersteine wie der Horrorclown im Weißen Haus in Washington oder die AfD, die aus Dummheit oder Kalkül die Erdüberhitzung als Hirngespinste bezeichnen, sind in letzter Zeit noch dazugekommen. Machen wir trotzdem, machen wir gerade deshalb auch heute wieder einen Schritt in die richtige Richtung.